„Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen“. Damit bringen Gerald Hüther, Maja Storch, Benita Cantieni und Wolfgang Tschacher es auf den Punkt.
Sie schreiben aus fachlicher Perspektive der Kognitionswissenschaft, der Psychologie, Neurobiologie und der Körperarbeit über die Wichtigkeit des Körpers und einer ganzheitlichen Betrachtung von Körper, Geist und Seele in der Wissenschaft.
Ihr Ziel ist es – genau wie meines, „dass der Körper endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die er schon lange verdient hat. Dass er nicht weiter behandelt wird wie eine Maschine, die entweder vergessen oder unterdrückt, oder nur trainiert und operiert wird.“
Die Autoren beleuchten die Embodiment-Perspektive aus ihren Fachbereichen und vertreten die Meinung, dass diese so wichtig ist, „,dass sich die gesamte Einschätzung der Körperarbeit grundlegend ändern muss. Jede Fachperson, die Menschen berät, therapiert oder erforscht, ohne den Körper mit einzubeziehen, sollte eine Erklärung für dieses Manko abgeben müssen.“ Klare Worte, beim Lesen derer ich als körperorientierter Coach gerne zustimmend nicke, denn ohne Körper können wir am Ende des Tages nicht leben. Warum also lassen wir ihn in Therapien, Trainings und Coachings immer noch außen vor?
Da ich, wie die vier Autoren, der Meinung bin, dass dem Körper viel zu wenig Beachtung in einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen geschenkt wird, nehme ich auch das Thema Embodiment zum Anlass dieses Beitrags.
Embodiment: Was bedeutet das?
Seit einigen Jahren beschäftigen sich die Neuro- und Kognitionswissenschaften vermehrt mit dem Begriff Embodiment (deutsch: Verkörperung). Im Wesentlichen geht es dabei darum, den Zusammenhang und die Wechselwirkung von Gedanken, Emotionen und Erfahrungen mit unserem Körper genauer zu beleuchten. Das Ergebnis: unser Gehirn arbeitet nicht getrennt von unserem Körper, sondern verarbeitet und bewertet vielmehr die vom Körper aufgenommenen Signale, die er aus der Umwelt in Form von Reizen (auditiv, visuell, taktil…) erhält.
Die Neurobiologie bestätigt, dass Erfahrungen und Erlebtes nicht nur im Gehirn als Erinnerungen gespeichert sind, sondern quasi in jeder Zelle unseres Körpers (Zellen- oder auch Erfahrungsgedächtnis). Auf unsere Erinnerungen im Gehirn greifen wir bewusst zu, während die Erfahrung unseres Körpers ein unbewusster Prozess ist. Die hier gespeicherten Denkmuster und Glaubenssätze äußern sich dennoch körperlich als Reaktion auf bestimmte Situationen, z. B. in Form von Kribbeln im Bauch, Muskelanspannung oder Engegefühl in der Kehle. Diese körperlichen Reaktionen beeinflussen dann schließlich unser Denken, unsere Emotionen und Handeln.
Die Kognitionswissenschaft geht davon aus, dass rationale Prozesse also ohne den Körper nicht möglich sind, denn unsere Umwelt wird zuallererst durch unseren Körper sensorisch wahrgenommen und nicht durch unseren Kopf.
Embodiment: Wechselwirkung zwischen Körper und Geist
Wir wissen aus der Forschung, dass unsere Körperhaltung, Mimik und Gestik ein Ausdruck unseres psychischen Zustandes sein können. So hat man z. B. auch gesehen, dass depressive Menschen häufig eine eher zusammengekauerte Körperhaltung zeigen.
Die Verkörperung unseres inneren Zustandes geschieht völlig unbewusst. Doch die Wissenschaft hat auch herausgefunden, dass wir im Stande sind, bewusst mithilfe einer veränderten Körperhaltung Einfluss auf unseren Gemütszustand nehmen können.
Embodiment Übung: Machen Sie einmal selbst den Vergleich!
Setzen Sie sich hin, kippen Sie die Schultern nach vorne, lassen Sie die Wirbelsäule ebenfalls locker, sodass sie einen Bogen nach vorne macht. Lassen Sie den Kopf hängen und legen einen ernsten Gesichtsausdruck auf. Verweilen Sie so für eine Minute. Wie fühlt sich das an? Wie ist Ihre Atmung?
Im Anschluss stehen Sie auf, die Beine etwa hüftbreit, Rücken gerade, Schultern nach hinten, Brust nach vorne oben, Kopfhaltung ebenfalls tendenziell nach vorne oben gerichtet, sodass ihre Halswirbelsäule gerade ist. Zusätzlich können Sie nun noch ihre Arme in die Hüfte stemmen. Lächeln Sie (auch ein ungewolltes Lächeln stimmt uns fröhlicher). Bleiben Sie auch in dieser Position für eine Minute. Wie geht es Ihnen jetzt? Was fällt ihnen im Unterschied zur vorherigen Haltung auf?
Embodiment kennen wir schon lange
Eigentlich wissen wir bereits seit geraumer Zeit, dass Körper und Psyche eine Einheit bilden. Im Zusammenhang mit Sport und Bewegung wurde nicht nur die Verbesserung des körperlichen Zustandes des Menschen, sondern auch des psychischen vielfach untersucht und bewiesen. Wir wissen, dass Bewegung unser Gehirn besser durchblutet, dass sie Einfluss nimmt auf unser Nervensystem, Endorphine freisetzt, Stresshormone abbaut usw. All dies hat einen positiven Effekt auf unser Wohlbefinden.
Seit den späten 1990er Jahren beschäftigt sich die Neurowissenschaft mit dem Einfluss von Bewegung auf unser Gehirn. Die Erkenntnis, dass unser Gehirn mithilfe von körperlicher Aktivität in der Lage ist, neue Nervenzellen zu bilden und zu vernetzen und dadurch Verhaltensreaktionen zu verändern sowie die psychische Verfassung fördern kann, war bahnbrechend. Im Laufe der Jahrzehnte wurden immer mehr Studien und Forschungsarbeiten dazu veröffentlicht, dass und wie Bewegung unsere Gehirn- und Gedächtnisprozesse, aber auch emotionalen Prozesse beeinflusst und unsere Denkleistung und Lernfähigkeit verbessern kann. Die Basis dafür bildet unser Nervensystem, das über die Sinnesorgane Reize aufnimmt und an das Gehirn zur Bewertung und Verarbeitung weiterleitet. Durch neurale Netzwerke sind Denken, Emotion und der Körper miteinander vernetzt und beeinflussen sich gegenseitig. All dieses Wissen nutzen wir leider nur selten, auch wenn wir z. B. aus diversen Versuchen und Studien vielfach erkannt haben, dass wir schneller und besser lernen, wenn wir uns bewegen oder auch wenn wir Dinge mit den Sinnen erfahren.
Embodiment im Coaching
Das heißt nun nicht, dass im Embodiment Coaching Sport getrieben wird. Dennoch werden mit gezielten Bewegungsübungen und neurosensorischen und sensomotorischen Trainings sowie dem bewussten Einsatz unserer Sinne unser Wohlbefinden und unsere Resilienz gesteigert. Unser Nervensystem entspannt sich, wir fühlen uns sicherer und können dadurch festgefahrene und hinderliche Denkmuster und Glaubenssätze verändern. Wir sind besser in der Lage, Entscheidungen zu treffen, Emotionen zu verstehen und zu regulieren und dementsprechend unser Verhalten in bestimmten Situationen anzupassen. Wir nutzen in dieser Form des Coachings also unsere Körperintelligenz, anstatt die pure Ratio. Neue Erkenntnisse und Erfahrungen werden damit auch im Körper verankert.
Da der Mensch von Natur aus und immer (Tag und Nacht, privat und beruflich) ein emotionales Lebewesen ist und unser Körper in der Lage ist, unsere Emotionen zu regulieren oder auch in bestimmten Situationen zu verändern, kann uns das Embodiment Coaching (auch Embodied Coaching genannt) in vielerlei Hinsicht unterstützen, sowohl im Umgang mit uns selbst als auch mit anderen. Das äußert sich in unserem Verhalten, unserer Ausstrahlung, unserer Kommunikation und der Interaktion, in der Erreichung von Zielen usw.
Wichtig ist, dass wir wieder in uns hineinspüren, alle Emotionen zulassen und nicht zu verkopft, sondern unseren Körperimpulsen folgend (oft auch Intuition genannt) an eine Problemstellung oder Herausforderung herangehen. Und genau das tun wir im Embodiment Coaching.
Was passiert in einer Embodiment Coaching Session?
Wenn Sie z. B. mit dem Thema Belastungen zu mir kommen, kann eine Embodied Coaching Session so beginnen:
Ohne, dass wir vorab lange darüber sprechen, gehen wir direkt in die Aktion. Sie stellen sich mit einem Gewicht, das ich Ihnen auf den Rücken oder in die Hände gebe, hin und lassen das auf sich wirken. Ich stelle Fragen, wie „Wie fühlt sich das an? Wie verändert sich Ihre Körperhaltung? Wie gehen Sie mit dieser Belastung um?“
Sie werden einen Körperimpuls spüren und Gedanken werden dazu auftauchen. Manche Klienten hören sich sagen: „Das kann ich noch länger aushalten; Das geht schon; Da geht noch mehr. Immer her damit!“ oder es taucht Wut oder ein Unwohlsein auf. Ein Körperimpuls will die Belastung in eine Ecke werfen und sagen: „Weg damit!“ oder das Gewicht vorsichtig zur Seite ablegen. Manche empfinden dabei Schuld, dass sie es nicht länger tragen wollten. Andere behalten die Gewichte und fühlen sich stolz, dass Sie so stark sind.
Wir erleben also Belastung rein körperlich, ohne darüber gesprochen zu haben.
Wir beobachten, wie wir Belastungen empfinden, welche angelernten Muster wir haben und welchen Körperimpulsen wir nicht nachgeben. Im Rahmen des Coachings finden wir so heraus, was für die Klienten im Umgang mit Belastungen gesund wäre. Für manche Menschen mag es mal gesund sein, ihr Unwohlsein auszudrücken und das Gewicht in die Ecke zu werfen, für andere ist es vielleicht wichtiger, zu lernen, sich den eigenen Grenzen bewusster zu werden und nein zu sagen. Wir lernen, wie man Belastungen gesund auf sich nimmt.
Diese kleine kurze Übung hat uns Stunden des „Um-den-heißen-Brei-Rumredens“ gespart, denn durch den Körper gelangen wir sehr schnell zum Kern der Sache und können daraus z. B. mit systemischen Coaching-Elementen oder Körperübungen Lösungen entwickeln.
Mehr zum Embodiment Coaching finden Sie auch hier.
Quellen:
https://www.aok.de/bw-gesundnah/psyche-und-seele/embodiment-was-ist-das
https://drblaschka.de/embodiment-neue-ansaetze-fuers-coaching/
https://www.meinegesundheit.at/cdscontent/?contentid=10007.793626#
https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/download/pdf/3642849?originalFilename=true
„Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen“, Gerald Hüther, Maja Storch, Benita Cantieni und Wolfgang Tschacher, 2017, Hogrefe Verlag, Bern
Embodiment und Emotionen im Coaching 4.0 - Abschied von der Kopfgeburt, Ellen Flies, Springer essentials, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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